Forschungsprojekt zum Alkoholkonsum

Naturmedizin 4/2021

Hirnschäden nicht nur durch Rauschtrinken

Bier, Wein, Sekt oder Hochprozentiges zu trinken, ist in unserer Kultur tief verwurzelt: Über 13 Liter puren Alkohol nehmen Europäer im Alter ab 15 Jahren im Durchschnitt jährlich zu sich. Dabei ist längst bekannt, dass Alkoholmissbrauch das Gehirn schädigt. Frühzeitige Erkennung und Überwachung können helfen, Hirnschäden zu minimieren – und auch der Entzug kann das Hirn schädigen!
In der Folge von Alkoholkonsum kann es zu zahlreichen Einschränkungen kommen; die Kontrolle des Menschen über die eigene Handlungsfähigkeit nimmt ab. Dies befördert wiederum die Sucht – ein Teufelskreis. Die Psychologin Dr. Ann-Kathrin Stock vom Dresdner Universitätsklinikum befasst sich in einem von der Daimler und Benz Stiftung geförderten Projekt mit Hirnschäden, die während des Rauschtrinkens, aber auch während eines Alkoholentzugs auftreten können. Ihr Forschungsziel ist es, diese Schäden früher und präziser erkennen zu können, um so zu einer Verbesserung der Behandlung alkoholkranker Menschen beizutragen.
Das Statistische Bundesamt zählte allein im Jahr 2017 über 300.000 Patient:innen, die wegen Alkoholmissbrauchs stationär behandelt werden mussten, und rund 16.000 entlassene Patient:innen nach einer Rehabilitation.
 
Hirnschäden auch durch Entzug
Nach neuesten Erkenntnissen treten Hirnschäden nicht nur beim Rauschtrinken selbst auf, sondern verstärken sich insbesondere während der ersten Phasen des Entzugs. Laut Stock tragen die entzugsbedingten Schäden wiederum dazu bei, bestehende Suchtstörungen aufrechtzuerhalten – umso stärker, je mehr Entzüge notwendig sind. Für einen größtmöglichen Therapieerfolg sind daher die Motivation der Patient:innen und zugleich die medizinische Versorgung von großer Bedeutung. Wodurch entstehen aber die Hirnschäden, die durch Alkoholkonsum und -entzug bedingt werden? „Je mehr und regelmäßiger ein Suchtmittel konsumiert wird, desto stärker steuern Körper und Gehirn entgegen“, erklärt Stock, „es kommt zur Toleranzentwicklung.“ Ein Beispiel: Alkohol entzieht dem Körper Wärme – woraufhin der Körper als Ausgleich mit einer Erhöhung seiner Temperatur entgegenwirkt. Deshalb tritt beim sogenannten „kalten“ Entzug ohne medizinischen Beistand als häufige Gegenreaktion Fieber auf.
Ähnlich verhält es sich mit den Botenstoffen des Gehirns: Alkohol dämpft die Hirnaktivität, indem es die hemmende Wirkung des Botenstoffs Gamma-Aminobuttersäure (GABA) potenziert und gleichzeitig die erregende Wirkung von Glutamat, eines weiteren wichtigen Botenstoffs, reduziert. Um dies zu kompensieren, passen sich bei dauerhaftem Konsum die Art und Anzahl der entsprechenden Rezeptoren im Gehirn an – der Alkohol wirkt weniger dämpfend. Als Folge werden immer höhere Mengen getrunken, um den gewünschten Effekt noch erzielen zu können. Wenn das Botenstoffsystem aufgrund dieser Toleranzbildung jedoch nicht mehr richtig funktioniert, kommt es beim Entzug wegen der Übererregbarkeit des nüchternen Gehirns zum Absterben von Hirngewebe, insbesondere der weißen Substanz. Im Klartext heißt das: Der Entzug ist für die Patient:innen umso gefährlicher, je mehr Alkoholtoleranz ihr Körper im Lauf der Zeit entwickelt hat. Um die teils lebensbedrohlichen Konsequenzen zu behandeln, kommen Medikamente zum Einsatz, die die Wirkung des Alkohols am GABA-Rezeptor ersetzen. Die über Glutamat vermittelte Übererregbarkeit wird jedoch meist nicht gesondert behandelt, obwohl eine zu starke Aktivierung der Glutamatrezeptoren zu weitreichenden Schäden an der weißen Substanz führen kann. Genau dieser Mechanismus ist jedoch im Zusammenhang mit Alkohol noch nicht ausreichend erforscht; bis vor kurzen fehlte es auch an geeigneten Diagnosemethoden, um derartige Schäden schnell, kostengünstig und exakt identifizieren zu können. „Um eine Verbesserung der Behandlungsergebnisse auf allen Ebenen zu erreichen, müssen wir zeigen, dass sich bereits geringfügige Schäden an der weißen Substanz messbar auf die Kontrolle über das eigene Denken und Handeln auswirken können“, erläutert Stock. In ihren Studien erforscht sie die akute Wirkung eines Vollrauschs und untersucht Patient:innen vor, während und nach dem Entzug. Der wissenschaftliche Fokus liegt auf dem Zusammenhang zwischen Handlungskontrolle und bestimmten Bruchstücken der weißen Gehirnsubstanz, die sich mithilfe eines innovativen und sehr empfindlichen Verfahrens im Blut nachweisen lassen. Diese stellen ein sensibles Maß für die suchtbedingte Schädigung bzw. die verbliebene Funktionalität der weißen Substanz dar. Laut Stock kann dies künftig einen wichtigen Baustein in der zeitnahen Diagnose und Behandlung entzugsbedingter Hirnschäden darstellen.
Quelle: Daimler und Benz Stiftung, Marion Hartmann: Wann und wie schädigt Alkohol das Gehirn? Informationsdienst Wissenschaft

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