Globus-Modell mit Stethoskop drumherum als Symbol für Nachhaltigkeit in der Medizin.

Im Gespräch mit Prof. Michael Müller, Universität Freiburg

NATUR+PHARMAZIE 3/2023

Nachhaltigkeit in der Pharmazie – ist alles, was "grün" ist, gut?

Prof. Michael Müller
Bereits vor 15 Jahren wurde an der Universität Freiburg das „Interdisziplinäre Ethik-Seminar“ in der Pharmazie eingeführt. Dieses jährlich durchgeführte Seminar wurde 2018 vom Umfang und Inhalt deutlich erweitert und als „Ethik und Nachhaltigkeit“ ein Pflichtseminar im Studiengang MSc Pharmaceutical Sciences. Dieses Modell steht Pate für ein in der neuen Approbationsordnung für Apotheker:innen zu verankerndes Modul. In den letzten fünf Jahren haben Professor Müller und sein Team die Thematik in Lehre und Forschung deutlich ausgebaut. Dieses Engagement wurde mit zwei herausgehobenen Lehrpreisen auf Universitäts- und Landesebene gewürdigt. Inzwischen ist Sustainable Pharmacy (Nachhaltige Pharmazie) an der Universität Freiburg fest verankert, was zahlreiche Workshops, Seminare, Vorlesungen und die erste Summer School for Sustainable Pharmacy für Doktorand:innen (2022) belegen. Die Nachhaltigkeit wird sichtbar in den inter- und transdisziplinären Fortführungen: So wird die nächste Summer School für Doktorand:innen im September 2023 in Kiel stattfinden. Und nicht zuletzt wurden Materialien erarbeitet, die für die professionellen Akteure eine Hilfestellung sein können.
Herr Prof. Müller, angesichts der Tatsache, dass Unmengen an bedenklichen Rückständen durch pharmazeutische Stoffe Umwelt, Tiere und Menschen belasten, stellt sich die Frage: Muss das eigentlich wirklich sein?

Müller: In der westlichen „Kultur“ des Zusammenlebens ist inzwischen eine Mentalität etabliert, die im angelsächsischen mit „a pill for every pain“ (frei übersetzt: ein Medikament gegen jedes Übel) beschrieben wird. Die Denkweise, dass Schmerz, überspitzt ausgedrückt: jegliches Leid, vermeidbar und insbesondere medikamentös vermeidbar ist, stellt in der negativen Ausprägung eine wichtige Komponente der Opioid-Krise in den USA dar. Selbstverständlich sollten Schmerzen adäquat behandelt werden – ein Leben ohne Zugang zu Schmerz- oder Narkosemitteln möchte man niemandem wünschen. Aber die grundsätzliche Denkweise im Falle von Erkrankungen, dass Medikamente als erstes oder gar einziges Mittel der Wahl angesehen werden, ist ebenso fatal! Fast grundsätzlich gilt: Statt Prävention und Vorsorge (there is no glory in prevention) wird die medikamentöse „Therapie“ als erstes betrachtet. Die Zivilisationskrankheiten pandemischen Ausmaßes lehren uns, dass ein Umdenken dringend notwendig ist: Eine rein kurative Herangehensweise, also Pharmazie als DAS Mittel gegen (Zivilisations-)Krankheiten, greift eben nicht kausal deren Ursachen an. Stattdessen sollte die pharmazeutische Intervention als gleichberechtigter Teil einer ganzheitlichen Betrachtung einbezogen werden, zu der auch Ernährung, Bewegung, Umwelt, Bildung, sozialer Status etc. gehören. Es gilt, den Menschen/Patienten mit all seinen Wünschen, Sorgen und Ängsten in den Blick zu nehmen. Insofern ist Nachhaltige Pharmazie ein integraler Bestandteil der Klinischen Pharmazie. Zu gerne wird übersehen, dass die Umweltbelastung mit (vermeidbaren) Medikamenten nicht in einem End-of-pipe-Ansatz, sprich durch Kläranlagen oder andere technologische Ansätze, gelöst werden kann. Dafür sind sowohl die schieren Mengendimensionen wie auch die Persistenz der (Abbau-)Produkte viel zu fortgeschritten.

Wann haben Sie als Pharmazeut begonnen, sich mit der Frage der Arzneimittelrückstände zu beschäftigen? Gab es einen konkreten Auslöser?

Müller: Ich hatte das Glück, dass unsere Forschungsarbeiten (Aufklärung biosynthetischer Wege zu Natur- und Wirkstoffen) uns schon recht bald einen breiten Blick auf die komplexen Zusammenhänge in der Natur ermöglichten. Hierdurch realisierten wir, dass auch auf molekularer Ebene alles mit allem zusammen hängt. Einfache Schwarz-Weiß-Lösungen, wie wir Menschen dies gerne hätten, laufen in der Natur ins Leere oder kehren sich gar ins Gegenteil um.

Am Beispiel der Antibiotika-Naturstoffe kann man sich leicht verdeutlichen, dass diese, wenn nicht nachhaltig verwendet, sich gegen den Menschen wenden. Zunächst war die Erkenntnis über deren Wirkungsweise eine reine Erfolgsgeschichte. Nach und nach kehrt sich diese aber gegen den Menschen: Das Multi-Resistenz-Problem ist vor allem ein Resultat der unsachgemäßen Verwendung und Herstellung von Antibiotika. Auch hier gilt: Ein Leben ohne Zugang zu wirksamen Antibiotika möchte man niemandem wünschen! Aber die (antibiotische) Wirkung für diese und zukünftige Generationen aufrecht zu halten, ist eine gesamtgesellschaftliche Herausforderung. Wir müssen lernen, mit den Limitationen umgehen zu können – und auch die Limitationen des Erkenntnisgewinns zu akzeptieren!

Somit: Antibiotika in der Umwelt können als Startpunkt meiner Überlegungen gelten, sie sind aber – leider – nicht der einzige geblieben: Substanzen mit Umweltrelevanz wie Diclofenac, Metformin, Ethinylestradiol, Tramadol, bis hin zu jüngst Paxlovid wären ebenfalls zu nennen, und die Liste geht weiter …

Es kursieren ja wahnsinnig viele Begriffe – Eco, ökologisch, grün, ganzheitlich –, um nur einige zu nennen. Sie betonen aber, dass man den Begriff der Nachhaltigkeit klar beschreiben und abgrenzen muss. Können Sie uns das näherbringen?

Müller: Auch hier können Antibiotika als Beispiel dienen: Ein „grünes Antibiotikum“, welches unsachgemäß verwendet wird, resultiert ebenso in Resistenzproblemen wie ein konventionelles Antibiotikum. „Nutzer“ von Antibiotika (Patient, (Tier)Arzt, Apotheker, Krankenkassen, Behörden, Landwirte, etc.) könnten aber einem falschen Anreiz unterworfen sein, nach dem Motto, dass „grün“ gleichzeitig auch gut für die Umwelt sei. Wenn etwas umweltschädlich ist, z. B. ein Produktionsprozess, ist dessen grüner Gegenpart, also ein „grüner“ Produktionsprozess, nicht automatisch nachhaltig. Wenn dies, wie im Falle der Antibiotika und Medikamente ganz allgemein, in einem nicht-nachhaltigen (auf Umsatz basierenden Geschäftsmodell) falsche Anreize schafft, ist nichts gewonnen, vielmehr ein weiteres Beispiel für einen Rebound-Effekt geschaffen worden.

Wir können nur versuchen, im Gesundheitswesen mehr in Richtung Nachhaltigkeit zu agieren; derzeit wird eher in Richtung „grüne Pharmazie“ reagiert, teilweise auch durch blanken Aktionismus. Ein Hauptproblem ist, dass auch unser Gesundheitssystem einem nicht nachhaltigen Wachstumsdogma unterworfen ist. Ohne eine ganzheitliche Betrachtung werden viele, wenn nicht die meisten Versuche in Richtung ökologisch, grün, etc. aufgrund ihrer einseitigen Schwarz-Weiß-Lösungen im Gegenteil resultieren.

Mittlerweile hat man das Gefühl, jedes Unternehmen, von Mc Donald’s über Coca Cola bis hin zu Transportunternehmen, sei CO2-neutral und „Eco-friendly“. Wie ernsthaft empfinden Sie diese Bemühungen und verwaschen sie vielleicht nicht manchmal die Realität, Stichwort „Greenwashing“?

Müller: Sobald ein einseitiges Vorgehen gewählt wird, ist dieses fast automatisch als nicht-nachhaltig identifizierbar. Ganz abgesehen davon ist „klimaneutral“ für große Systeme wie Städte oder auch ‚nur‘ Universitäten ein nicht einlösbares, irreführendes Versprechen. Vielmehr sollten wir uns fragen, ob die deflection-(Ablenkungs-)Strategien zweier großer Ölkonzerne so erfolgreich waren, dass wir den individuellen Fußabdruck soweit verinnerlicht haben, dass wir nicht mehr Wichtig von Unwichtig unterscheiden können? Ohne massive Reduktion des globalen Konsums von Ressourcen in jeglicher Hinsicht wird die Menschheit nicht in der Lage sein, nachhaltig zu überleben (siehe kategorischer Imperativ nach Hans Jonas: „dass eine Menschheit sei“). Die Umweltverschmutzung und der Biodiversitätsverlust sind inzwischen aufgrund ihrer Unumkehrbarkeit, ihrer Fernwirkung und ihrer Dimension dem Klimawandel mindestens ebenbürtig, wenn nicht gar gravierender. Das von Ihnen zu Recht angeprangerte „Greenwashing“ ist teilweise nichts anderes als das Ablenken von den eigentlichen Problemen, um das jeweilige nicht-nachhaltige Geschäftsmodell aufrecht zu erhalten oder sogar, um aus der Krise Gewinn zu schlagen. Ein fatales Beispiel für Mitnahmeeffekte im Bereich des Gesundheitswesens bietet das zweite und insbesondere dritte Corona-Jahr.

Fast in jedem Unternehmensbereich beschäftigen sich die Marketingabteilungen intensiv damit, umweltfreundlich zu erscheinen. Die Pharmaindustrie wird aber ziemlich ausgeklammert. Man hat das Gefühl, wenn es um Medikamente geht, ist der Politik und vielleicht auch der Gesellschaft jeder Preis, und sei er noch so hoch, wert. Was für Regulierungen müssten Ihrer Meinung nach bei der Medikamentenproduktion verändert bzw. eingeführt werden?

Müller: Einfache Lösungen wird es aufgrund der Komplexität der Herausforderungen nicht geben können. Innovative neue Arzneimittel werden bislang durch hohe, teilweise exorbitante Gewinnmargen refinanziert. Ganz abgesehen davon, wird nahezu jeder neue Ansatz in der Pharmaforschung durch öffentliche Mittel zumindest kofinanziert. Die risikoreiche Forschung möchte sich die Pharmaindustrie nicht durch weitere (Umwelt-)Auflagen bei der Zulassung oder durch Einschränkungen der Methoden eingrenzen lassen. Da bereits jetzt schon Umweltstudien auch für Humanarzneimittel Pflicht sind, deren Ergebnisse aber weder publiziert werden noch für die Zulassung von entscheidender Relevanz sind, gilt es, rechtliche Rahmenbedingungen für mehr Transparenz zu schaffen. Als Nächstes wird anstehen, dass persistente und hochproblematische Substanzen, wie sie zuhauf auch unter Pharmazeutika zu finden sind, dieselben Auflagen und Rahmenbedingungen erhalten, wie dies z. B. für Tierarzneimittel etabliert ist.

Unbenommen dieser hoffentlich anstehenden Änderungen bleibt ein wichtiger Aspekt die Herstellerverantwortung: Die Entsorgung von Altstoffen bis hin zur Reinigung von Oberflächen-, Trink- und Grundwasser kann nur in der Verantwortung der Hersteller verbleiben. Wer sonst sollte für persistente Substanzen und deren Entsorgung aufkommen? Unendliche Kosten können grundsätzlich nicht erstattet werden, sodass die Hersteller zwischen dem Kostenaufwand für die Entsorgung und den möglichen Gewinnaussichten abwägen müssten.

Auf der einen Seite bräuchte man politische Entscheidungen und Regulation. Die Anreize für die Entwicklung neuer Medikamente sind aber doch ein gesamtgesellschaftliches Problem?

Müller: Antibiotika zeigen auf, dass die Gesellschaft sehr wohl in der Lage ist, auch gravierenden Problemen durch innovative und diverse Modelle zu begegnen. Als Beispiel sei das vom Umsatz entkoppelte Bezahlsystem des NHS für neue Antibiotika genannt. Es braucht also beides, sowohl ein Bewusstsein in der Bevölkerung für die ursächlichen Probleme wie auch die Bereitschaft der politischen Führung, neue Wege zu gehen, da die Lösungen oftmals nicht innerhalb des bestehenden Systems gefunden werden können (vielmehr ist das jeweilige System häufig Teil des Problems).

Da wir, zumindest in Deutschland, bislang Medizin und Pharmazie als unerschöpfliche Quelle betrachten, ist es wichtig, dass die Bevölkerung sich der Limitationen des bestehenden Gesundheitssystems bewusst wird. Nicht zuletzt durch die zunehmenden Umweltprobleme wie auch die Klimakrise werden wir schon bald die Grenzen der Finanzierbarkeit unserer Gesundheitsversorgung ausloten. Umso wichtiger ist es, dass gesundheitliche Bildung und Bildung im Allgemeinen einen ihrer Bedeutung entsprechenden Stellenwert erhalten. Ich sehe dies aber weder im Bildungs- noch im Gesundheitswesen; vielmehr ist es wohl kein Zufall, dass sowohl Lehrermangel wir auch der Pflegenotstand zeitgleich auftreten.

Im Sinne der planetaren Gesundheit ist ein Gesundheitssystem wie unseres nicht vertretbar. Was können die einzelnen Akteure, Ärzt:innen, Apotheker:innen / Pharmazeut:innen, Hersteller, aber auch Patient:innen heute schon beitragen?

Müller: Zunächst einmal sollte allen im Gesundheitswesen Tätigen ein riesen-großes Lob ausgesprochen werden: Trotz teilweise unzumutbarer Bedingungen erbringen sehr viele von ihnen Höchstleistungen! Nur dank ihres unermüdlichen Einsatzes konnten wir mit einem blauen Auge durch die Corona-Jahre kommen. Ein weiteres Überstrapazieren des Gesundheitssystems wird dieses aber nicht unbeschadet überstehen. Es gilt also sowohl das Vertrauen der Bevölkerung in das Gesundheitssystem und in die verantwortlichen Akteuren zu stärken (und schon gar nicht dieses aufs Spiel zu setzen – siehe so manche Entscheidung während der vergangenen beiden Jahre), als auch gleichzeitig die Partizipation und Eigenverantwortung auszubauen. Erst wenn die Menschen verinnerlicht haben, dass auch sie selber für ihren körperlichen und seelischen Zustand verantwortlich sind, und eben nicht ein „Gesundheitsklempner“, werden sie den der Medizin und Pharmazie zustehenden wichtigen Beitrag richtig einordnen und schätzen lernen. Die „Akteure“ sind eben nicht nur Ärzt:innen, Apotheker:innen / Pharmazeut:innen, Hersteller, sondern auch die (zukünftigen) Patient:innen selbst. Den „professionellen“ Akteuren kommt somit die Rolle des Vermittlers zu, damit die Menschen sich selber wieder als Mensch in all seiner Einmaligkeit und Zweckfreiheit, aber auch Verletzlichkeit und Endlichkeit wahrnehmen. 

Nachhaltige Pharmazie
Nachhaltige Pharmazie ist die gleichzeitige, gleichberechtigte und dynamische Einbeziehung pharmakologischer, ökologischer, wirtschaftlicher, sozialer und rechtlicher Aspekte mit dem Ziel, eine wirksame Behandlung von Krankheiten für heutige und künftige Generationen zu gewährleisten.
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